English   Impressum
 
 
M100 Beirat Standort Presse Partner/Links Kontakt
 
Sanssouci Colloquium
Medien Preis
Jugend Medien Workshop
Offshoot Workshop
Idee
2005
2006
2007
2008
2009
2010
Bewerbungstexte
Agenda
Teilnehmer
Workshops
Ergebnisse

Eine Heimat für 90 Minuten

Von Katrin Dreher

Sinan lebt seit acht Jahren in Deutschland. Angekommen ist er bis heute nicht.

Schöne Augen hat er, dunkelbraun mit langen, schwarzen Wimpern. Der junge Mann schaut den Richter im Amtsgericht Tübingen ernst an. „Wie fühlen Sie sich?“, fragt der Vorsitzende. „Ich fühle mich wie eine leere Flasche“, antwortet Sinan. Zwei zermürbende Jahre Asylverfahren liegen hinter dem politisch verfolgten Kurden aus Haydarli, einem kleinen Ort im Osten der Türkei. Heute entscheidet der deutsche Staat über seine Aufenthaltsgenehmigung.

An der Hacettepe Universität in Ankara gehörte Sinan zu den besten Studenten seines Jahrgangs, in Tübingen ist er nur ein Zuschauer. Ganze Tage verbringt der 22-Jährige auf den Stufen zur Alma Mater und beobachtet die Menschen. Wie sie wohl ihr Geld verdienen, was sie von Philosophie halten oder über die Türkei denken? Sinan hat Angst, vor lauter Nichtstun verrückt zu werden in seinem schwäbischen Exil. Er will studieren, arbeiten, Menschen treffen - „ganz normal leben halt.“ Stattdessen steht er jede Woche zwei Stunden Schlange für ein Paket mit Lebensmitteln. Als er einmal mit dem Zug nach Stuttgart fährt, wird er von der Zivilpolizei aufgegriffen. Er darf sich nicht mehr als 30 Kilometer vom Asylheim wegbewegen. Nach Stuttgart sind es 45 Kilometer. Freiheit und Demokratie hat Sinan sich anders vorgestellt.

In der Bundesrepublik leben über sieben Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, darunter 190.000 Flüchtlinge mit Duldung. Das geht aus der im Jahr 2007 erstmals vorgenommenen Erhebung des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervor. Eine Duldung ist nach dem Aufenthaltsrecht die „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“. Für die Betroffenen bedeutet das, oft über Jahre hinweg, ein Leben ohne sichere Zukunftsperspektive, immer von einem Monat auf den anderen, mit der ständigen Angst, abgeschoben zu werden.

„Ich erlebe viele Familien als sehr belastet“, sagt Beate Campe, während sie mit einem Auge das Geschehen um sich beobachtet. Vom Band läuft Madonna, acht Mädchen wirbeln voller Inbrunst durch den Raum. Beate Campe ist pensionierte Grundschullehrerin und kümmert sich seit zwei Jahren ehrenamtlich um die Freizeitgestaltung der Kinder im Asylbewerberheim Hammerschmiedstraße in Freiburg. 14 Roma-Familien aus dem Kosovo leben dort seit zehn Jahren. „Wenn wir zurück müssen, erschieße ich mich und meine Kinder“, das bekommt Campe nicht selten zu hören. Normalität sei im Umfeld des Asylheims kaum möglich. „Die Familien nehmen nicht am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teil“, klagt die 64-Jährige. Selbst den Kindern, die fast alle hier geboren sind und gut Deutsch sprechen, fällt es schwer, sich zurechtzufinden. 80 Prozent von ihnen besuchen eine Förderschule, ihre freie Zeit verbringen sie meist unter sich, auf dem Gelände des Asylheims. Dabei würden sie gern anders. „Zum Beispiel ins Schwimmbad gehen, ins Kino, an den Waldsee – was auch immer“, sagt Campe, die jedes Wochenende einen dieser Wünsche erfüllt. Wahrgenommen zu werden, sich angenommen zu fühlen, das sei für diese Kinder außerhalb ihrer Gemeinschaft eine ganz neue Erfahrung.

„Tooor!“, brüllt Sinan. Sein Freudengeschrei gilt Lukas Podolski, der im EM-Spiel gegen Polen gerade den Ball versenkt hat. Sechs Jahre sind seit der Anhörung im Amtsgericht Tübingen vergangen, die ersehnte Aufenthaltsgenehmigung wurde ihm bewilligt. Er habe sich „eingewöhnt“, sagt Sinan in flüssigem Deutsch. Im „Uni Kebap“, einem Dönerladen in der Freiburger Innenstadt hat er Arbeit gefunden. „Ich bin sozusagen der Chef“, meint Sinan und lacht. Seinen Traum vom Uni-Zertifikat will er sich nächstes Jahr erfüllen. Integrationstest bestanden? Deutschland sei ihm nach wie vor fremd, sagt Sinan. „Ich bin nie richtig hier angekommen.“ Zu stark hat ihn die Zeit im Asylheim geprägt, die Zeit der Kettenduldungen, das Gefühl, unerwünscht zu sein.

Beate Campe kennt diese Problematik. „Wenn jemandem eine solche Wunde zugefügt wird, ist er für die deutsche Gesellschaft verloren“, fürchtet sie. Es wirkt, als habe sie einen Blick in die Zukunft „ihrer“ Kinder aus der Hammerschmiedstraße geworfen.

Sinan jubelt. Poldi hat das 2:0 geschossen. Du bist Deutschland! – Für Sinan gilt das genau 90 Minuten.

Katrin Dreher, 24, ist eine Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und wird im Herbst diesen Jahres an der Humboldt-Universität ihr Studium der Europäischen Ethnologie anfangen. Sie ist freie Autorin, u.a. für das Straßenmagazin fiftyfifty.

 
 
 
 
  von Sviatlana Dzenisevich,
Weissrußland
     
  von Benjamin Bergeman,
Deutschland
     
 

von Teodora Kostadinova,
Bulgarien

     
  von Kübra Yücel,
Deutschland
     
  von Cristiana Moisescu,
Rumänien
     
  von Anna Petroulaki,
Griechenland
     
  von Katrin Dreher,
Deutschland
     
  von Indre Zdanciute,
Litauen
     
  von Victoria Graul,
Deutschland
     
  von Patricia Curmi,
Großbritannien
     
  von Felix Sebastian Gaedtke,
Österreich
     
  von Kary Morris,
Deutschland